Des Widerspenstigen Zähmung – Sinnwelten prämoderner Gesellschaften
transcript Verlag, Bielefeld 2004, 211 S.ISBN 3-89942-134-5
Man liest schon im Titel unwillkürlich Shakespeare mit, sicher kein Zufall. Eigentlich ist gar nichts an der Gesamtkomposition des Buches zufällig, sondern wohlgesetzt. Von Klaus E. Müller stammen die allgemeinen und systematischen Kapitel, von Ute Ritz-Müller eine detaillierte Fallstudie, die an sechster Stelle steht, wenn man das ausführliche Vorwort mitzählt. Und dies sollte man, denn hier wird über den Sinn und seinen Gegenwartsbezug intensiv reflektiert.
Im zweiten Kapitel steht der Mensch auf der prädatorischen Stufe im Mittelpunkt, die interessanterweise eigentlich eine Überflussgesellschaft war. Dass hier das Tier eine besondere Rolle in der Geistesauffassung bildete, betrachten wir heute (intellektuell rückblickend) als selbstverständlich. Müller belegt seine Argumente reichhaltig durch ethnologische Parallelen. Grundsätzlich musste die diesseitige und die übersinnliche Welt in Einklang gebracht werden. Diesen Einklang stellten die Menschen her, die wir heue generell als Schamanen bezeichnen und die sich in beiden Welten bewegen konnten.
Aller guten Dinge sind Drei und „Verflucht sei der Acker“ – das dritte Kapitel widmet sich den Anfängen der Ackerbaukulturen weltweit, ihren neuen Techniken wie z.B. Keramik und der sich verändernden Geisteskultur und der daraus folgenden Kulte. Denn die Erde muss verletzt, verwundet werden, wenn der Acker bestellt wird. Sühne ist die Folge. Der Mensch verstrickt sich in Schuld gegenüber der Geistigkeit der Welt. An zentraler Stelle lesen wir die Reflektion über die drei grundlegenden Mythenkreise der Weltkultur und wir finden darin viele Motive der späteren Hochreligionen.
„Der Palast“ ist die Reflektion über die sich entwickelnden Herrschaftsstrukturen überschrieben, denn eine komplexer werdende Welt muss eingeteilt werden. Und beim Teilen kommt Streit auf, was wieder gesellschaftliche Reaktionen hervorruft: Handel, Stadtmauern, Heere, Sicherheit! Und Absicherung der weltlichen Spitze nach oben zu einem Götterhimmel – eine fast kausallogische Abfolge.
„Der Auszug“: Von den Inseln der Hochkulturen wurde die Welt durchdrungen. Dieser Prozess hat in der Gegenwart sein Ende erreicht. Wir sehen aber die Spuren dieser Phase allerorten, denn karge Regionen bedürfen besonderer Nutztiere und der Fernhandel brauchte Zuchttiere wie Pferde und Kamele. Die Herrschaftsform verwandelte sich vom sakralen Königtum bis hin zu Superstratieformen geschichteter Gesellschaften der jüngeren Geschichte. Hier kommt Müller mit seiner Gesamtbetrachtung im 20 Jahrhundert an, bei den afrikanischen Sozialismusversuchen im Osten wie bei Apartheid im Süden.
Logischerweise folgt nun die Fallstudie, ausgehend von einem Mord in Westafrika im Sommer 2001. Ritz-Müller analysiert diesen Fall und zeigt die sehr komplexen Verflechtungen einer modernen Welt mit einer durch und durch traditionellen auf. In Afrika begegnen sich beide Sphären nahezu ohne Übergangszone und die Menschen leben oft in beiden Bereichen gleichzeitig – ein gigantischer Spagat. Die Autorin vermittelt aber durch ihre exzellente Studie auch die tieferen Schichten, denn der Kriminalfall bliebe unverständlich ohne Kenntnis afrikanischer Geistigkeit. Dafür haben die vorausgehenden Kapitel den Boden bereitet und wir können den afrikanischen Spezialfall als exemplarisch in der Welt stehend betrachten: Es hätte auch an fast jeder anderen Stelle des Globus sein können. Mit einer eigenartig (aber nur auf den ersten Blick) anmutenden Trickstergeschichte endet dieser Exkurs und leitet über zum siebten Anschnitt:
„Vom Sinn des Ganzen.“ Es ist ein großer Schritt, Weltentwicklung und Geistesentwicklung in einem Zusammenhang abzuhandeln, aber es spricht für das Autorenteam, dass dies gelungen ist ohne in Plattheiten abzurutschen. Die Genesis ist vollendet.
Vorsicht: Das Buch ist eine Herausforderung für jeden Leser, es hat viele Querbezüge, aber aus den komprimierten, tiefen Gedanken lässt sich Gewinn für Jahre ziehen. Man sieht dem Werk an, dass es die reife Frucht eines langen Forscherlebens ist und die Gedanken wirken beim Leser nach und bilden Keime, die sich entfalten. 19 Seiten Literaturverweise bieten zusätzlich Material in Hülle und Fülle.
(Wolfgang Creyaufmüller, Aachen)