Klaus E. Müller
Schamanismus – Heiler, Geister, Rituale
München, 1997, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 128 S.
Die Kapitel ‚Vorspiel’ und
‚Nachspiel’ klammern den Hauptteil des Buches. Im ‚Vorspiel’ wirft Müller einen
Blick ins Eiszeitalter, indem er die archäologischen Funde und Höhlenbilder
lebendig schildert und Vergleiche zum bekannten Schamanismus herstellt. Das
Thema wird auf den letzten Seiten des Buches nochmals aufgegriffen und mit
Argumenten verstärkt. Abgesehen vom Alter wird das Phänomen des Schamanismus
als außerordentlich flexibel und anpassungsfähig erlebt – was insgesamt sein
Weiterexistieren von der Prähistorie bis zur Gegenwart erklären könnte. Im
‚Nachspiel’ ist die Gegenwart als Zeitgestalt anwesend mit ihren
Erscheinungsbildern des Neoschamanismus, Stadtschamanismus, New Age Heilern
u.ä.
Die dazwischen liegenden 7
Hauptkapitel beleuchten das Thema nun aus verschiedenen Perspektiven. Kapitel 1
und 7 haben einen gemeinsamen Spannungsbogen. Zuerst schildert Müller das
Menschenbild traditioneller Gesellschaften (Lager- und Dorfgemeinschaften mit
elementarer Wirtschaftweise, „Ahnenkult“), nach dem der Mensch dreigegliedert
ist in vergänglichen physischen Leib, etwas resistenterer Vitalseele
(Ätherleib) und unvergänglicher Freiseele (Astralleib und Ich), die jede Nacht
den Leib verlässt, beim Tod für immer. Komplikationen bei der Schwangerschaft
führte man auf Probleme der Freiseele zurück, sich mit dem Leib zu verbinden.
Der menschliche Unterhalt durch Jagd war mit den Resourcen der Tierwelt
verknüpft und die Menschen suchten die Balance zu halten zwischen Töten und
Erhalten, wobei erschwerend dazukam, dass Seelen-Verwandte (Tiere) eigentlich
nicht getötet werden durften.
In diesem Komplexgefüge übernahm der Schamane die Vermittlerrolle, indem er
sich in der physischen und in der geistigen Welt gleichsam sicher bewegte, die
seelisch bedingten physischen Erkrankungen heilte, durch die Pflege der
leibunabhängigen Freiseele den Bestand der Gruppe sicherte. Für diese Prozesse
referiert Müller im 7. Kapitel Erklärungsversuche auf der Basis der Psychologie
und Medizin des 20. Jhs. (arktische Hysterie, Besessenheit, Chorea (Veitstanz),
Epilepsie, Schizophrenie) und der Ethnologie, die sich mehr der Verbreitung und
der Differenzierung des Schamanismus widmete und dies innerhalb verschiedener
ethnologischer Modelle zu erklären suchte.
Kapitel 2 und 6 (‚Vorkommen’
und ‚Schamanenleben’) hängen ebenfalls zusammen: Auf der einen Erde gibt
es den Schamanismus in Nordasien, Amerika und Australien, nicht jedoch
in Afrika - in einem Lager oder Dorf gibt es einen Menschen, der
die besonderen Gaben des Schamanen hat (Erde – Schamanismus, Dorf – Schamane).
Der sogenannte Elementarschamanismus ist gekennzeichnet durch die Ekstasetechnik,
mittels derer sich Ich plus Astralleib (tw.) entäußern und durch Einsatz rudimentärer
Hilfsmittel. Diese (Drogen, Trachten, Trommel) finden im Komplexschamanismus
vermehrt Anwendung. Dessen Riten und Rituale sind komplizierter, umfänglicher.
Vor allem in Ost- und Zentralasien gibt es noch die Form des hochkulturlich
überprägten ‚Besessenheitsschamanismus’. Das grundsätzliche Weltbild ist dualistisch
und unterscheidet zwischen direkt erlebtem Diesseits und einem Hintergrund im
Jenseits. Trotzdem ist auch eine Dreigliederung in Ober-, Mittel- und Unterwelt
geläufig (S. 38). Die Welt dreht sich um die Weltenachse wie der Sternenhimmel
sichtbar um den Polarstern.
In der Unterwelt hatten
bestimmte Geistmächte (z.B. diejenigen, die für jeweils eine Krankheit
zuständig waren) ihren genau definierten Wohnort, der geographisch beschreibbar
war. Der Schamane musste also diese Topographie exakt kennen. Eine derartige
Topographie hatten auch das Totenreich und die Region des Himmelsgottes, wo
sich die für die Wiedergeburt bestimmten Kinderseelen befanden.
Am Ende des 20. Jhs. konnte
nur noch ansatzweise das topographische Wissen der jenseitigen Welten
dokumentiert werden. Siebzig Jahre zuvor wäre dies präzise möglich gewesen. Die
Sowjetära hat hier viel bewirkt, sodass dieser elementare Zugang zu geistigen
Welten erschwert wurde (S. 48f.).
Der Kosmologie (Kap. 3)
gegenüber steht das Kapitel über die Praxis, also darüber, was der Schamane tun
muss, wie er gekleidet sein muss, welche Ritualgegenstände er benutzt, um
erstens in die geistigen Welten gezielt einzutreten, um sich zweitens dort
aufgrund seiner topographischen Kenntnisse sicher zu bewegen und um letztlich
wohlbehalten zurückzukehren. Detailliert beschreibt Müller die Schamanentracht,
die am ausgeprägtesten in Sibirien auftrat. Hier ist zu bemerken, dass man
diese in zwei Typen gliedern kann: Vogelformen (z.B. Adler, Uhu) und
Cervidenformen (Hirsche, Elche und andere Geweihträger). Zu den wichtigsten
Requisiten gehörten Zeremonialstäbe und insbesonders die Schamanentrommel.
Erstere dienten in der geistigen Welt als „Reittier“, also zur Fortbewegung,
letztere zur Verbindung mit den freundlichen und feindlichen Geistwesen. Da die
Trommel mit dem Hilfsgeist des Schamanen innigst verbunden war, wurde sie beim
Tod und Begräbnis ebenfalls zerstört und beerdigt.
Die Séance selbst wurde
durch eine Reinigungszeremonie vorbereitet, der Ort wurde geweiht. Zur
Beschleunigung des Eintauchens in die geistigen Welten können Drogen (Pilze,
Lianen, Kakteen usw.) eingenommen oder geraucht werden. Viele dieser Drogen
sind in der Jugendbewegung des 20. Jhs. bekannt geworden – aber anders als bei
den Jugendlichen ist von keinem Schamanen eine Drogenabhängigkeit nachzuweisen.
Die Droge wird benutzt, bleibt aber Hilfsmittel im Dienst einer höheren Sache.
Betrachtet man das Buch in
seinen Zusammenhängen, dann steht als zentrales Kapitel das vierte, das der
‚Heranbildung’: Ein Schamane braucht ein Berufungserlebnis, obwohl sich bei
vielen späten Schamanen schon bei der Geburt Besonderheiten zeigten – häufig
findet es ab der Pubertätszeit statt bis ca. zum 30. Lebensjahr.
Nach der Berufung und
gegebenenfalls nachfolgenden Belehrung (durch die Geister) kommt es zu einer in
der Regel dreitägigen Initiation mit charakteristischen Merkmalen: In der
Geistwelt (Traum bzw. Vision) wird der Kandidat getötet, zerstückelt und
skelettiert. In der darauffolgenden Wiederbelebung wird der Körper komplett
erneuert. Nach der Neugeburt in der Geistwelt erfolgt eine intensive Belehrung
durch und über geistige Mächte und über die Unterweltstopographie. Danach hat
der Schamane erweiterte Kenntnisse über Pflanzen, Wasser- und Landtiere,
Krankheiten und Heilmethoden. Vielfach werden Aussagen über die veränderte Aura
gemacht, aber auch über andere übersinnliche Fähigkeiten wie z.B. Telepathie,
Präkognition und Psychokinese. Der Umgang mit den Geistern Verstorbener auch
außerhalb einer Séance war die Regel, nicht die Ausnahme.
Bei vielen Völkern konnte
sich nach Berufung und Initiation noch eine systematische Lehre und Ausbildung
durch einen älteren, erfahrenen Meister anschließen, die Heilkräuterkunde und
medizinische Techniken umfasste, aber auch Gesänge, Rituale und anderes wurde
vermittelt.
Blickt man etwas anders,
mehr linear auf das Buch, hat es die Tendenz vom großen Zeitlichen und
Räumlich-Kosmologischen sich spiralförmig zusammenziehend bis zur Initiation
des Individuums. Dann weitet sich die Spirale, auswickelnd über die Kapitel der
Praxis und des Schamanenlebens bis zur Einbettung in die Weltkulturen des 20.
Jahrhunderts. Es geht also ein Pulsschlag durch das ganze Buch.
Die Auswahlliteratur ist
kurz aber gehaltvoll, die Sach- und Personenregister hilfreich.
Wer einen Einstieg in die
Thematik sucht, ist hier bestens bedient. Dies war ja auch das erklärte Ziel
des Büchleins. Wer Vertiefung sucht, wird auch nicht im Stich gelassen. Müller
vereinigt die große Kunst, verständlich und gehaltvoll gleichermaßen zu
schreiben.