Nachbarinnen - Die Alltagswelt muslimischer Frauen in einer nigerianischen Großstadt
Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a.M., 1997
255 S., 5 Karten uns Skizzen, 8 Fotos
In ‘Nachbarinnen’ beschreibt Katja Werthmann ‘die Alltagswelt muslimischer Frauen in einer nigerianischen Großstadt’ - so der Untertitel des Buches, das in dieser Form als ihre Dissertation angenommen wurde.
Der achtseitige Prolog gibt die Situation wieder, in die die Autorin geriet, als sie nach einem Jahr des Aufarbeitens ihrer Feldforschungen an den Ort des Geschehens zurückkehrte: Eine lebendige Fallstudie einer Ehekrise, ihre Überwindung und die Rolle der Ethnologin als Katalysator.
Das 1. Kapitel hat die Forschungsgeschichte zum Inhalt, ihre Stärken und ihre Schwächen: Viele bisherige Arbeiten litten, so die Autorin, darunter, daß sie nicht den richtigen Zugang zum Thema hatten oder durch die Person des Forschers selbst eine unüberwindbare Distanz vorhanden war. Hierzu ein Zitat (S. 39): "Wie aber lassen sich alltagsweltliche und individuelle Deutungen und Handlungen darstellen ohne Gefahr zu laufen, für Frauen zu sprechen, ohne Frauen sprechen zu lassen? Eine ethnologische ‘construction of what women think women think’ vernachlässigt den Bereich, den Malinowski in seinen klassischen Ausführungen die Unwägbarkeit des wirklichen Lebens nannte".
Werthmann begab sich mitten hinein in die Altstadt von Kano und studierte die soziale Umgebung der ‘matan bariki’, Ehefrauen von Staatsangestellten (Polizisten) in einer modernen Reihenhaussiedlung - keine Elite, keine erfolgreichen Händlerinnen, keine Randgruppen. "Alle teilen Erfahrungen wie frühe erste Verheiratung, mehrere Scheidungen, Eifersucht in polygynen Ehen, die ständige Präsenz von Krankheit, Tod und sinkendem Lebensstandard; aber auch romantische Liebe, Mutterschaft, starke Bindungen zu Verwandten, Freundinnen und Nachbarinnen, ausgelassene Feste und das laute Lachen von Frauen" (S. 31).
Die Kontakte begannen über Sprachstudien anhand des Kochenlernens von Hausagerichten (S. 35) und wurden intensiviert durch erst sporadische, dann immer regelmäßiger werdende Reihenbesuche. Nach einem Jahr Aufenthalt in Kano folgte später ein zweiter, kürzerer. Ein Besuch der Mutter der Forscherin eröffnete dieser den Zugang zu Frauenproblemen älterer Frauen, die ihr bisher vorenthalten wurden 8S. 38). Dieses erste Kapitel endet mit einer theoretischen Erörterung über "das Problem des Fragens" an sich.
Das 2. Kapitel beginnt mit einem geschichtlichen Überblick über die Entstehung, Entwicklung und Islamisierung der Hausastaaten. Als sie das 20 Jh. erreichte, verengte die Autorin den Blick erstmals auf Kano, die Gliederung der Stadt, die ethnischen Gruppen, das Wirken der Kolonialmacht, die Infrastruktur: "das Auffälligste ist zunächst das Straßenleben. Ob tags oder nachts, ob Altstadt oder Neustadt, immer sind die Straßen voll von Menschen". Dieses Gewühl wird nun lebendig differenziert. Dann folgt der zweite Zoom auf die Police barracks, drei Häuserreihen mit insgesamt 48 Häusern, die 1952/53 fertiggestellt wurden. Ein Vorraum öffnet sich zum Innenhof mit Bepflanzung, Waschplatz und Latrine. Geschlossene Räume sind die Küche und zwei Zimmer à 8 m2 (so die Schemazeichnung auf S. 55). Jedes Haus hat mit Hof ca. 45 m2 Grundfläche. Hier ist eine Hauskonstruktion verwirklicht, die sich am Standard westlicher Kleinfamilien orientiert (S. 60).
Zu 46 Frauen und Mädchen, erstere überwiegend zwischen 20 und 30 Jahre alt, hatte die Autorin regelmäßig Kontakt. Mit einer Zusammenfassung über die Art und Dauer der Schulbildung dieser Frauen endet dieses Kapitel.
Ein weiter Zoom verengt den Blick auf das Innere des Hauses. Sachlich, aber nie trocken wird der Haushalt mit allen seinen Aspekten beschrieben: der Tagesablauf, die Mahlzeiten, die Zimmereinrichtung der Frau, die Kleidung und Kosmetik. Ein anderer Aspekt sind die Nachrichten aus der Außenwelt, die in der Siedlung kursieren, sei es über Rundfunk oder Fernsehen, seien es Gerüchte oder Geschichten.
Der Religionsausübung und den verschiedensten Ritualien in der Frauenwelt widmen sich die Folgeseiten. Danach kommen zentrale Ereignisse im Leben der Frau: Schwangerschaft und Geburt. Hier flicht Werthmann eine ganze Reihe konkreter Fallschilderungen ein. Auch das nächste Thema - Krankheit und Tod - wird durch konkrete Fallschilderungen bereichert. In dem wieder mehr allgemein beschreibenden Stil endet das 3. Kapitel mit dem Komplex Handel, Hausarbeit, Herumsitzen. In den bariki werden verschiedene Verkaufstätigkeiten von Frauen ausgeführt: Lebensmittel und Süßigkeiten, Eiswürfel und Getränke, Kosmetika, Brennholz, Gewürze. Eher produktiv ist Nähen, Haareflechten, Pürieren. Daneben gibt es noch Zwischenhandel mit industriell gefertigten Waren (S. 98). Der Mangel an Möglichkeiten, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften, liegt an der Marktferne.
Ein letzter Zoom richtet sich auf die zentralen Themata des Buches: Mütter und Kinder, Ehemänner und Mitfrauen. "Viele Ehen werden nach einer sehr kurzen Bekanntschaft geschlossen und ebenso rasch wieder geschieden. Erstgeborene Kinder wachsen nicht bei ihren leiblichen Eltern auf." Die Schilderung der Kindheit und Erziehung läßt auch die Fragen nach leiblicher Ver- und Entsorgung nicht unbeantwortet. Körperliche Züchtigung gehört nicht zum Erziehungskonzept, obwohl verbal damit gedroht wird - durch die vielen bis in die wörtliche Rede gehenden Beispiele eine Fundgrube für den Pädagogen. Für Europäer ungewöhnlich ist die Scham, die tabuisierte Beziehung und daraus folgende Meidung des Erstgeborenen (S. 118ff.). Die Eltern gelten übrigens auch erst mit dem Übergangsritual der Geburt des ersten Kindes als erwachsen (S. 105). Das erste Kind wächst in der Regel bei Verwandten auf. Bei Ehescheidungen bleiben die Kinder generell beim Vater (bzw. bei dessen Verwandten), der auch für den Lebensunterhalt sorgt. Durch die übliche Wiederverheiratung tauchen durchaus innerfamiliäre Konflikte auf - die böse Stiefmutter ist ein wiederkehrendes Thema in Hausamärchen (S. 124).
Bei ihrem Aufenthalt in den bariki wurde Werthmann Zeugin der Verheiratung von 9 Mädchen im Alter von 17 - 18 Jahren nach Abschluß der Secondary School. Sie konnte deshalb die Hochzeitszeremonien aus eigenem Miterleben kenntnisreich schildern. Üblicherweise dauern die ersten Ehen nur kurze Zeit - viele Mädchen laufen einfach weg.
Einen größeren Raum nehmen die diversen Fallstudien zum Thema Eifersucht in einer polygynen Ehe ein, aber auch Interviews mit Frauen, die ein harmonisches Verhältnis miteinander haben. Ein bemerkenswerter Satz hierzu: "Ob Freundschaft oder Rivalität: polygyne Ehen sind in erster Linie Beziehungen zwischen Frauen" (S. 150 - Die Männer arbeiten und sind fast immer weg!).
"Die Ehe starb" ist ein Hausaausdruck für eine Scheidung. Das islamische Recht der Maliki-Rechtsschule kennt verschiedene Trennungsmöglichkeiten: Die Verstoßung der Frau durch den Ehemann, Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen oder auf Wunsch der Frau, Annullierung der Ehe aus schwerwiegenden Gründen. Auch hier handelt Werthmann das Thema nicht nur abstrakt ab, sondern gestaltet es überaus lebendig und anschaulich durch eine ganze Reihe von Fallstudien.
Nach diesen tiefen Einblicken in den innersten Kern der Familien nimmt das Buch wieder eine gegenläufige Tendenz auf. Der Blick weitet sich auf weiträumigere Beziehungen, auf Nachbarschaft und Freundschaft. Der Fall der bariki ist hierbei nicht typisch für Nigeria, weil in den Reihenhäusern die erweiterten Familien und Verwandtschaftsgruppen fehlen.
Das 7. Kapitel widmet sich dem Thema "eingeschlossene Frauen" - verheiratete Frauen sollen dem Gebot der Geschlechtertrennung nach das Haus nicht oder nur in Ausnahmefällen verlassen (sogenannte Seklusion). Dieses Thema, zu dem auch die Frage der Verschleierung gehört, eignete sich wieder mehr für eine grundlegende, historisch und theoretisch unterlegte Erörterung und wurde von der Autorin so behandelt. Die praktische Analyse belegt allerdings, daß die Seklusion öfter behauptet als tatsächlich durchgeführt wird. "Entgegen meiner anfänglichen Erwartung ... waren viele meiner Nachbarinnen ständig in Bewegung" schreibt Werthmann konkret (S. 205 - der Leser erinnere sich an die stets vollen Straßen! ) und weiter: "Seklusion war und ist keine einheitliche und unveränderte Institution, sondern variiert historisch, regional und individuell" (S. 213) aber auch: "Seklusion wird von vielen - nicht von allen - Frauen als Privileg gesehen und beansprucht." (S. 215).
Das Schlußkapitel greift nochmal den Begriff ‘matan bariki’ - Frauen der Siedlung etwa - auf und gleicht ihn dem sozialen Umfeld gegenüber ab. Mit einer Zusammenfassung und allgemeinen Erörterung endet das Buch.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis mit vielen aktuellen Publikationen und ein Glossar Hausa - Deutsch bilden den Anhang.
Ein Urteil? Ich nahm das Buch in die Hand, fing an zu lesen und legte es nicht mehr zur Seite, bis ich am Ende angekommen war. Flüssig geschrieben, exzellent gegliedert, spannend und niveauvoll - außergewöhnliche Worte für eine Dissertation. Ich habe vom Lesen und Rezensieren profitiert.
Wolfgang Creyaufmüller
Zurück zum Index - Aktivierung der frames mit dem permanenten Inhaltsverzeichnis