Klaus E. Müller

Der gesprungene Ring - Wie man die Seele gewinnt und verliert
Verlag Otto Lembeck, Frankfurt 1997, 246 S., 25 Abb.
ISBN 3-87476-323-4

 

Ein Buch, das von der ersten Seite an den Eindruck macht, einer Komposition mit mathematisch anmutender Struktur zu gehorchen, ist selten. Vom Äußeren her ist Müllers Werk ein unaufdringliches Paperback, dunkelblau der Umschlag, einfach wie ein Windows-Icon die symbolträchtige Grafik. Der Titel „Der gesprungene Ring - wie man die Seele gewinnt und verliert“ verspricht Tiefe. Es sei vorweggenommen - das Versprechen wird erfüllt.

Beim Inhaltsverzeichnis wird die erste Stufe der Komposition sichtbar: Es gibt 6 Kapitel, wobei Vorwort und Anhang etwas abgesetzt sind. Die vier Hauptkapitel gliedern sich wieder in jeweils sechs Teile: einen Auftakt, vier Sätze und eine Schlusssequenz. Wie bei einer gelungenen musikalischen Komposition gibt es Übergänge, das Motiv wird weitergereicht. Diese Weitergabe ist manchmal so dicht, dass man die Kapitelüberschrift durch einen Gedankenstrich innerhalb eines einzigen Satzes ersetzen könnte (z.B. II, 1->2). Alle vier Hauptkapitel gehen mit dem Schluss in Variation um, Variation eines Themas: Inclusio, Circumclusio, Conclusio, Praeclusio. Was soll hier eingeschlossen, umschlossen, geschlossen, verschlossen werden? Es ist die Seele, dieses schwer zu fassende, aber doch allgegenwärtige Glied menschlicher Natur, unsichtbar, aber trotzdem wahrnehmbar. Müller versucht einen mehrfachen Spagat und verfolgt den Seelenbegriff durch die Kulturen einerseits und durch die Zeiten andererseits. Als Leser muss man schon konzentriert sein, den Wechsel von zeitlich horizontal zu zeitlich vertikal und umgekehrt zu verfolgen, zumal die Benennung von Jahren praktisch nicht erfolgt.

Jedes Unterkapitel wird von einem Bild begleitet, das zum Thema passt, lediglich das Auftaktkapitel „Einschlüsse“ hat zwei Bilder. Diese insgesamt 25 Kinderbilder stammen von Müllers kleiner Tochter Noela und passen thematisch zum Text. Man hat also zu jedem Thema ein zugehöriges Kinderbild (Alter ca. 6 Jahre) und kann auch unter kinderpsychologischen Gesichtspunkten dieses Buch studieren (wären die Bilder farbig, wäre dies ein Ge­winn gewesen).

Um was geht es jetzt im Einzelnen? Im Vorwort differenziert Müller die Seele in Vitalseele oder ‘Lebenskraft’, die die Funktionsfähigkeit des Organismus aufrechterhält und in eine „leibunabhängige Freiseele, die dem Menschen das Bewusstsein, die Erinnerung, das Denkvermögen, die Willens- und Entscheidungskraft verleiht und sich vom Körper zu lösen vermag, wie sie sich zu Lebensbeginn in ihn inkorporierte - vorübergehend allnächtlich im Traum, auf immer beim Ableben.“ (S. 7). Wie eine Seele entsteht, ist nicht Gegenstand der Erörterung, also keine theologische Diskussion über die Einmaligkeit der Seele, wird sie mit dem Leib geschaffen, vergeht sie mit ihm etc.; auch das Thema Reinkarnation taucht nur verhalten auf.

Ich werde im Folgenden das erste Hauptkapitel umfänglicher, die drei anderen etwas kürzer ins Augenmerk nehmen.

Inclusio: “Einschlüsse“: Mit dem unbefangenen Blick der Kinder fängt Müller an, dem Blick zu den Vögeln am Himmel, dem Blick zurück in alte Zeiten, zu Menschen, die fern oder schon lange tot sind. Schon auf der ersten Seite wird klar, dass für die Seele weder der Raum- noch der Zeitbegriff gültig ist, wie ihn die traditionelle Physik (nicht unbedingt mehr die Quantenmechanik!) lehrt. In kurzen Sätzen schildert Müller den gegenwärtigen Umgang medizinischer Spezialisten mit der Seele und stellt ihn dem „älterer, versunkener Naturvolkgesellschaften“ gegenüber, die einen geschlossenen Korpus bildeten. Schon auf diesen ersten Seiten wird eine Stärke deutlich, die andererseits leicht zu einer Schwäche werden könnte: Müller stellt Typisches dar, generalisiert stark und vereinfacht dadurch. Die Schwäche sucht er durch reichhaltige Belegstellen zu umgehen: Auf 173 reinen Textseiten finden sich 721 Querverweise, die ihrerseits wieder auf nicht selten mehrere (im Einzelfall bis zu 15) Literaturbelege verweisen. Man kann also bei diesem Alterswerk von einem sorgfältig recherchierten Überblick ausgehen. „Kraft“ steckt in allem, Bewegung und Wärme sind die Hauptmerkmale des Lebens - die „Vitalkraft“ wurde als Lebensseele begriffen. Gesteigert taucht sie in der Fruchtbarkeit auf, die über „Status, Ansehen und Erfolg in der Gesellschaft“ (S. 16) entschied. In eine jenseitige Welt geht etwas unkörperliches, leibunabhängiges, das den Tod überlebt, ein - die Freiseele. „Im Unterschied zu rein spirituellen Geistwesen blieb sie freilich im Leben einem Körper verbunden, gefangen im Stoff ...“ (S. 18). In der Trance oder Ekstase vermag sich die Freiseele bis zu einem gewissen Grad vom Körper zu befreien. Auf den folgenden Seiten werden viele Beispiele gegeben, welche Bilder in der Menschheit existieren, um die Entstehung eines Menschenkeims aus Ei und Sperma zu verstehen, dem erst später die Freiseele eingegliedert wird.

: “Der Weg ins Leben“ hat die Geburt des Kindes zum Thema mit allen Gefahren bei diesem Vorgang. Als Gefahren gelten hierbei weniger die physischen, medizinisch erklärbaren, sondern die spirituellen, denn die Säuglinge sind noch sehr der Welt verbunden, aus der sie kamen und gehen allzu leicht zurück.

: “Warum man einen Namen erhält“ widmete sich insgesamt dem Bereich der Namensgebung, wobei ja eine Identitätsbezeichnung ein Teil der Identität ist. Kurz: Wer den Namen kennt, hat bis zu einem gewissen Grad Macht über den Namensträger. Hier gilt es jetzt vorzubeugen und zu tarnen, zu verschleiern: Geheimnamen, generalisierende Namen und vieles mehr - „Namen sind eben alles andere als Schall und Rauch“ (S. 42).

: “Die Verwandten“ ... „bilden eine endliche, aber unbegrenzte Gruppe von Menschen, deren Zuordnung sich auf zwei Kriterien gründet: die genealogisch bruchlose Deszendenz und den ehelichen Zusammenschluss zweier - auch mehrerer (bei Polygamie) - Partner.“ (S. 42). In der Regel führen die konsanguine und die affinale Verwandtschaft zu Spannungen innerhalb einer Gruppe, denen mit unterschiedlichen Mitteln oder Regeln begegnet wird. Die Familie bildet generell eine Solidar- und Friedensgemeinschaft (S. 47). Auf 8 Seiten findet man in diesem Kapitel alles Wichtige zum Thema ‘Verwandtschaft’ zusammengefasst und durch Beispiele aller Kontinente bestens belegt.

:“Sympathie“ wird betrachtet als eine vereinheitlichende Gefühlsbezeichnung, die über die Verwandtschaft hinausgeht, aber eine größere Gruppe geschlossen hält. In der historischen Dimension geht Müller bis zu Tacitus zurück, der die Rituale der Germanen beschreibt (S. 57). In der spirituellen Dimension wird den vielfach belegten telepathischen Verbindungen breiterer Raum gegeben (S. 57-60) - sie sind bei Zwillingen am engsten, funktionieren aber auch ohne Verwandtschaftsbeziehung.

:“Rückschlüsse“ widmet sich dem Geschehen am Lebensende und den Ritualen danach, also dem Gesamtkomplex des Totenkultes: „Tut endlich die Seele den letzten Schritt, bricht hinter ihr die brüchige Leibeshülle vollends zusammen. Damit beginnt eine höchstkritische Phase. Der Verbund von Physis, Lebens- und Freiseele hat sich gelöst. Die Vitalkraft strahlt, sich zersetzend, in die nähere Umgebung ab, die Freiseele, da noch nicht eingebunden in die Gemeinschaft der Ahnen, gerät, schwebend gleichsam, in einen kritischen Übergangszustand, der sie, wie während der ersten Wochen nach der Geburt, anfällig für die Anschläge übelwollender Geistmächte macht. Alles war daher aufzuwenden, um zu verhindern, dass sie verloren ging.“ (S. 62). Die gesprengte Körperhülle ist der gesprungene Ring. Verlässt der Leichnam die „familiäre Heimstatt, war der zweite Ring, der die Seele ans Leben gebunden hatte, zersprungen. Der dritte fiel, wenn sie, im Totenreich angelangt, endgültig zu den Ahnen eingegangen war.“ Das Totenreich wird generell als inverse Welt erlebt, beschrieben. Ein Kreis schließt sich, wenn sich eine Seele nach drei bis vier Generationen erneut inkarniert (S. 70, ein Beispiel aus Sibirien). Abgeschlossen wird dieses außerordentlich dichte Kapitel mit einem Streiflicht auf die anthropogonischen Mythen von der Erschaffung des Urahns oder Urpaars der Menschheit.

Nachdem das erste Hauptkapitel den Mensch von der Geburt bis zum Tod verfolgte, erweitert sich das Untersuchungsfeld im zweiten Hauptkapitel. Es werden die den Menschen umgebenden Hüllen studiert (Circumclusio). Das beginnt mit der Kleidung und Tracht. Durch Tatauierungen werden gefährdete Körperstellen (-öffnungen) versiegelt. Etwas weiter außen, also weg von der Haut, werden Schmuck und Masken getragen. Es gibt Belege dafür, dass z.B. der eine Schmuck die Seele an den Körper bindet, ein anderer sie löst (S. 79). Im zentralen Viererschritt dieses Kapitels erweitern sich die menschlichen Hüllen zuerst auf das Haus (mit allem häuslichen Kultus wie Herdfeuer, Schreine etc.), das Dorf (mit Dorfstruktur als kosmisches Abbild, Weihebezirke, Abgrenzungen), die Gruppe (bis hin zur Stammesgröße), die Umwelt. Hier widmet sich Müller den Beziehungen des Menschen zur minerali­schen, pflanzlichen und tierischen Umwelt. Da dieser Umwelt ebenfalls Seelisches zu eigen ist, bedarf es bei einer Nutzung der Umwelt eines Ritus oder Kultus, der für einen Ausgleich sorgt. Besondere Orte, deren Aussehen über die Welt hin wechselt, erleichtern den Zugang zu den Geistmächten - die Umwelt lebte für die mit ihr verbundenen Menschen (S. 104). Wird ein Teil durch moderne Zivilisation verändert, bricht unter Umständen eine ganze traditionelle Kultur in sich zusammen.

Den Ausklang des 2. Kapitels bildet eine grundlegende Betrachtung menschlicher Riten, mit denen ein Lebensabschnitt begleitet (begonnen, beendet) wird, das Modell der Übergangsriten (rites de passage) wird erörtert. Bei manchen Schilderungen spürt man den Hauch, der bis ins 20. Jh. hineinweht und Reste alter Riten in unserer Gegenwartskultur ahnen lässt.

Das Motiv des 2. Kapitelausgangs wird zu Beginn des 3. aufgegriffen - vom Schloss zur Verschlüsselung, zu den Banden zwischen Menschen, die auf Absprachen, Traditionen, allgemein auf Rechtsverhältnissen bestehen. Das beginnt beim gemeinsamen Mahl aus einer Schüssel, geht über Gütertausch mit seinen vielfältigen  Verpflichtungen, die daraus erwachsen (Reziprozitätsprinzip) bis zur gruppenübergreifenden Vergemeinschaftung zwischen Heiratsverwandten (z.B. Frauentausch, Brautgeld etc.; S. 119f.). Der Faden der Redistribution (Rückverteilung) spinnt sich dann weiter und schließt die geistige Welt mit ein : Opfergaben <-> Bodenfruchtbarkeit, um nur ein Beispiel zu nennen (S. 122). Der Kontakt zu den Verstorbenen, den Ahnen, trägt dazu bei, dass sich die Freiseele wieder verkörpert und so das Überleben der Gruppe gewährleistet bleibt. Bis in die Kultur der Gegenwart hinein wird das Motiv verfolgt, wenn die Opferbereitschaft für religiöse Bauwerke (Moscheen in der Türkei; S. 123) den Beziehungsverbund der Bevölkerung aufrecht erhält.

Im zentralen Teil des 3. Kapitels handelt Müller die Komplexe des Amulettwesens ab, der Seelenbehältnisse u.ä., dann das, was weltweit als Intimbereich betrachtet und entsprechend geschützt wird. Manches sieht auf den ersten Blick wie eine Wiederholung vergangener Kapitel aus, der Blick liegt aber eben auf den Rechtsverhältnissen und den Beziehungsgeflechten, die daraus (z.B. aus geteilten Geheimnissen) erwachsen. So führt auch der Blick aufs Dorf diesmal konzentriert auf den Mittelpunkt als Kraftquell, den magischen Zirkel und viele damit in Verbindung stehenden Ritualen. Der nächste Schritt führt über das Dorf hinaus und nimmt ‘das Ganze’ ins Blickfeld, wobei hier die kosmische Ordnung gemeint ist, aber eben auch in den Rechtsverhältnissen zwischen Menschen und Göttern, Beziehungen werden durchaus kausal gesehen: „... hatte sich der Priester genau an die traditionellen Vorgaben gehalten, waren die Opfer einwandfrei gewesen, die Gebete fehlerfrei gesprochen ... die vorgeschriebenen Tabus ohne Ausnahme gehalten, trat die gewünschte Wirkung auch ein“ (S. 151).

Der Schlüssel zum Ganzen liegt in der klaren, geometrischen Weltanschauung: „Als die Götter sich anschickten, die Welt zu erschaffen, schwebten ihnen klare symmetrische Strukturen vor.“ - so dokumentiert aus Mali, Afghanistan, Sibirien, Kamerun. An derartigen Strukturen entzündet sich philosophisches Denken im antiken Griechenland - Müller verfolgt diesen Aspekt von Pythagoras bis Leibniz. „Gott ist eine Kugel, deren Zentrum überall, deren Peripherie nirgends ist.“ (S. 158). Die anschließenden Reflexionen über die Beschaffen­heit der Zahl Pi waren zwar bei der Abfassung des Buches schon leicht veraltet - 9 Jahre sind in der Computerbranche schon fast eine Ewigkeit - die gezogenen Schlüsse blieben trotzdem gültig: Vom Universum als Kugel zur Erde, zur Lichtung inmitten der Ödnis ins Dorf zu den Menschen - und dort „Die aber, Geist vom Geiste Gottes ... sind der Schlüssel zum Leben ... sie haben Schlüsselgewalt“. Letztlich liegt im Handeln des Einzelnen die Verantwortung für das Ganze. Ein großer Wurf!

Das 4. Kapitel handelt jetzt das ab, was eben auch menschlich ist: Krankheit, Unheil, Fehlentwicklung - in Müllers Bild ‘gesprungene Schlösser’. „Das Böse rührt von der Außenwelt her, ... das Böse setzt leise, eher unbemerkt an, um erst, wenn es fester Fuß gefasst hat, seine Zerstörungskraft voll zu entfalten“ (S. 161). Das Böse ist also ein aktives Prinzip, menschliches Fehlverhalten schafft ihm Raum. Als schlimmste Verbrechen gelten Inzest, Mord, Schadensmagie. Hier wird auf afrikanische Beispiele zurückgegriffen, aber auch auf die altnordische Mythologie, die Genesis, das Buch Henoch. Breiten sich Pessimismus und Lebensmüdigkeit bei den Älteren aus, verfällt auch die Moral (S. 168) bei den jüngeren Leuten - die Gesichtsschleier der Frauen in arabischen Städten werden dünner, durchsichtiger. Dies war eine der wenigen Stellen, wo mich Müllers Gedankenketten etwas irritiert zurückließen.

Im Hauptteil des 4. Kapitels wird zuerst ein archaisches Bild behandelt, das des ‘Verlorenen Sohnes’, das weltweit zu finden ist. Es geht aber um mehr. Überall auf der Welt prallen Kulturen unterschiedlicher Ausprägung aufeinander und meist setzen sich die westlich orientierten gewaltsam durch, die traditionell orientierten siechen dahin, sterben ab. Trotzdem gibt es immer wieder Einzelne, die heimatlos, in den Stadtzivilisationen die Gegenwartskultur und -technik aufnehmen und heimkehren und eine seelische Neugeburt erleben (S. 176). Früher gab es Rückzugsgebiete, die geachtet wurden, heute kaum noch - als Bild dafür steht die Klosterzelle, bei Frauen das verhüllte Haupt.

„Verwandtschaft, breitgenetzt, trug und band die alten pflanzerkulturlichen Dorfgemeinschaften. Sie begann rissig und brüchig zu werden, als gegen Ende des 5. Jahrtausends v. Chr. im Kernbereich Vorderasiens ... die ersten städtischen Gemeinwesen entstanden ...“ Ein zwar großartiges Bild, aber leider nicht durch irgendeinen Literaturbeleg abgesichert. Die Seiten 185-187 haben keinen einzigen Querverweis und sind so auch die einzige Stelle, an der ich, wie eingangs angedeutet, die Generalisierung zu stark empfand. Bei der These, dass vorantike Militärherren der eigenen Gesellschaft ihren Willen aufzwangen, empfand ich dies als einen ‘Schluß ins Leere’ ("ex falso quod libet" sagen die Mathematiker und fürchten derartige Situationen außerordentlich). Nicht, dass ich es für illegitim halte, so zu denken, aber wenn diese Seite mit dem Halbsatz eingeleitet worden wären: ‘Mein persönliches Bild der Entwicklung in alten Zeiten ist ... ‘ würde ich mich aller Kritik enthalten. Auch ein Hinweis auf frühere Publikationen hätte genügt.

Zuletzt stehen die Versuche, die Zerfallstendenzen traditioneller Kulturen aufzuhalten, die Institution der Nachbarschaft. Man muss hier nicht nur beispielsweise an australische Aborigines denken, sondern genau so gut an portugiesische Bauern (S. 193). Nachbarschaftshilfe ist an vielen Stellen der Welt institutionalisiert, aber auch in türkischen Vierteln deutscher Großstädte entstanden derartige Strukturen. Hier hätten auch Beispiele für Kleinstkredite der Dorfbanken (z.B. Grameen-Bank in Bangladesh, ähnliche Organisationen in Westafrika) einen würdigen Platz gefunden. Laut Spiegel 32/2000 arbeitet die Grameen-Bank heute in 40000 Dörfern und unterstützt 2,2 Millionen Kleinstunternehmerinnen, deren Kredite durch Nachbarschaftshilfe abgesichert sind.

Die „Abschlüsse“ setzen sich noch mit dem Tod auseinander, der auf gewaltsame Weise kam. Hammurapi und Dschingis Khan stehen Pate, aber auch, etwas zeitnäher, der Zulu Shaka. Aus der Schilderung der Eroberer entfaltet sich ein Untergrundthema: Solidarität und Gefolgschaftstreue, brüderliche Gleichberechtigung im neuen Bund. „Das neue Reich wird nicht mehr von dieser Welt sein“. „Des Leibes ledig, wird nunmehr die Seele endgültig frei, sich aufgeben über gesprungen Ringen ...“

Im Anhang finden sich 721 Anmerkungen mit oft vielfachen Literaturverweisen, in der sehr ausführlichen Bibliographie 495 verzeichnete Werke. Man hat hier eine ausgezeichnete Datenbank vorliegen, die kaum ein Bedürfnis offen lässt, trotzdem vermisste ich z.B. Werke von Mircea Eliade, der zum Thema ja ebenfalls viel Kompetentes zu sagen hatte.

Insgesamt liegt hier die Frucht eines arbeitsreichen Lebens vor zu einem großen Thema nicht nur der Ethnologie, sondern der Kulturgeschichte insgesamt: Der Seelenglaube als Schlüssel zum Verständnis des Lebens traditioneller Gesellschaften und der Weltinterpretation dieser Menschen. Es wird wenige Autoren gegenwärtig geben, die derart umfassend und profund diese Thema hätten abhandeln können. Obwohl Müller immer wieder bis in die Gegenwart vorzustoßen sucht, bleibt eine Kluft. BBC-World z.B. vermittelt durchaus ein anderes Bild der 90er Jahre. In jeder traditionellen Kultur der Welt wurde der Wert der Kalashnikov oder Uzi begriffen, die medizinischen und sonstigen Organisationen dringen in die letzten Winkel der Welt vor und verändern sie. In einem Drei-Tage-Kurs werden aus unbedarften Kindern Buschkrieger gemacht. Haben diese Kinder - es sind Millionen im Jahr 2000 - nicht auch irgendwo ihre Seele verloren? Ich hätte mir ein fünftes Kapitel über dieses wirklich ganz dunkle Kapitel der Menschheit vorstellen können, aber auch über die Kehrseite der Medaille, was wir in unsere Zivilisation aus den  Seelenglaubevorstellungen traditioneller Kulturen integrieren (die New Age Bewegung ist voll von neuen Weißen Frauen, Schamanen und Ähnlichem), aber auch, was wir zum Heil unserer in die totale Vernetzung hineingleitenden Kultur tun können (mit Reiki z.B. wird geheilt und die Lebenskraft aktiviert) - denn an jedem Ort der Welt kann die Seele ihre Ringe sprengen!

(Wolfgang Creyaufmüller)

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