Computer in der Waldorfschule
Der Computerunterricht in der Waldorfschule steht im Mittelpunkt des Themenheftes der Erziehungskunst, Heft 6, Juni 2000.
Das Thema hat durchaus eine längere Vorgeschichte. Ich will hierauf einige Schlaglichter werfen.
In den 70er und 80er-Jahren waren Technologie-LehrerInnen im sogenannten „Heidelberger Kreis“ aktiv und trafen sich mehrmals jährlich übers Wochenende. In dieser Zeit, d.h. ab 1980, waren PCs noch unerschwinglich teuer. Ansätze zu einer Computertechnologie basierten auf Relaisschaltungen. Heinz Schupelius aus Berlin unterrichtete mittels großer Postrelais seit vielen Jahren Löten und Schaltungstechnik. Eine ganze Reihe von Kollegen entwickelte ähnliche Konzepte. Hierzu gehörten selbstentwickelte gedruckte Schaltungen (z.B. von Schenk an der WDS Wangen), Dioden-Transistor-Logik in den Kasseler Lehrwerkstätten und ähnliches. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit, sondern ist lediglich mein eigener Einblick in die diesbezüglichen Aktivitäten der Schulbewegung. Bevor der „Heidelberger Kreis“ in seinen Bemühungen um stete Weiterbildung erlahmte, trugen die Kollegen damals einen Teil des Erarbeiteten in den 2 Bänden „Zur Lebenskunde“ zusammen: Teil 2 ist ein Aufsatzband und erschien 1984 als Schrift der Pädagogischen Forschungsstelle. Er enthält 2 Beiträge zur Computertechnik. Günther Steppuhn (damals Pforzheim) stellte seine 7 Lehrtafeln zur Schaltungstechnik vor: Sie umfassen hauptsächlich Relaisschaltungen und führen von den logischen Grundschaltungen bis zum Mikroprozessor (S. 119-158). Von mir stammt ein Beitrag zu Streifencodierungen, die damals gerade auftauchten, heute als Strichcodes allgegenwärtig sind (S. 159-215).
Mitte der 80er-Jahre lud Manfred v. Mackensen mehrfach alle am Thema arbeitenden KollegInnen nach Kassel, um einen Lehrplan zur Computertechnik zu erarbeiten. Eine Frucht war ein seither regelmäßig stattfindender Fortbildungskurs am PC, den hauptsächlich Peter Wenger aus Wahlwies leitete. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden als Sammlung in der Broschüre „Ursprünge, Wesenszüge und Gefahren der Computertechnik“ zusammengetragen, die 1990 bereits in 3. Auflage erschien. Es wird über Unterrichtsreihen in den Klassen 10, 11, und 12 berichtet (P. Wenger), die bis zum selbständigen Programmieren führen, über Halbleiter-Grundschaltungen zur Nachrichtentechnik (W. Hofrichter und M.v. Mackensen), über die Einführung in die Informatik in der 9. und 10. Klasse (H. Schupelius). Ergänzende Beiträge runden das Bild ab.
Es wird deutlich: Es gab nie ein einheitliches Unterrichtskonzept, sondern an vielen Schulen entstanden Unterrichte, Werkstätten und anderes, je nach Befähigung und Begeisterung der KollegInnen und den wirtschaftlichen Möglichkeiten vor Ort. Wir lernten viel von außen und voneinander, trafen uns sporadisch und arbeiteten wieder vereinzelt.
Vor rund 10 Jahren erschienen über ein ganzes Jahr hinweg Artikel von Ernst Schuberth zum Thema Computer in der Erziehungskunst, die in veränderter Form die Grundlage seines Buches „Erziehung im Computerzeitalter“ bildeten. Dies war ein Meilenstein und kann heute immer noch als solcher empfunden werden.
In den 90er-Jahren erschien hier und dort ein Beitrag zum Computerunterricht, die ersten Kollegen hatten E-Mail und auch das Goetheanum erhielt eine Website. Die meisten anthroposophischen Einrichtungen sind inzwischen über das Internet erreichbar. Nicht wenige Schulen profitieren von den Fähigkeiten ihrer SchülerInnen und haben eine als Jahresarbeit entstandene Website/Homepage.
Im Frühjahr 2000 war auf eine Delegiertentagung des Bundes der Freien Waldorfschulen zu hören, daß unsere Schulbewegung insofern up to date ist, daß an über 90% der voll ausgebauten Waldorfschulen in Deutschland in irgendeiner Form Computerunterricht erteilt wird.
Dies greift das eingangs zitierte Themenheft der Erziehungskunst auf. Kennzeichnend ist wie schon zuvor, daß es kein einheitliches Konzept gibt, sich aber die vielfältigen Ansätze gegenseitig bereichern und ergänzen.
Die Hardware-Ausstattung schwankt von Ort zu Ort: Ich kenne Schulen, die ohne weiteres 50000 DM und mehr in einen Computerraum stecken konnten, andere haben ganz wenig Mittel und leben vom Erfindungsreichtum. Wir in Aachen haben nie einen Computer gekauft - trotzdem laufen über 40 PCs. Es sind nicht unbedingt die neuesten Geräte, aber auch mit 486ern kann Computerunterricht erteilt werden (zudem werden sie laufend gegen bessere Maschinen ausgewechselt).
Zurück zur Erziehungskunst:
Matthias Maurer leitete als Redakteur ins Thema ein .
Ernst Schuberth schrieb mit „Mensch und Computer“ einen allgemeinen Artikel und stellt 4 Grundfragen:
„1) Was ist ein Computer, und warum kann er tun, was er tut? Speziell: In welchem Verhältnis stehen seine Funktionen zum menschlichen Denken?
2) Was ist zu lernen, um diese Technik sinnvoll anzuwenden?
3) Was sind die Wirkungen dieser Technik auf die menschliche Gesellschaft und den Einzelnen? (Technikfolgen-Abschätzung)
4) Welche kompensatorischen erzieherischen Maßnahmen sind notwendig, um möglichen negativen Auswirkungen dieser Technik vorzubeugen.“
Er gibt Antworten, soweit dies möglich ist und schließt: „Der Nutzen dieser Technik ist unbestreitbar. Soll sie nicht Schaden stiften, müssen ihre Grenzen aus einer Erkenntnis des Menschen mit sachlicher Bestimmtheit klar gezogen werden.“ Es ist ein kurzer Aufsatz mit allgemeinen und philosophischen Gedanken.
Gottfried Straube fragt „Computer in der Waldorfschule?“ und schildert dann ein Konzept, wie es seit 7 Jahren an norwegischen Schulen praktiziert wird. Er dreht die Reihenfolge, die früher im Technologieunterricht entwickelt wurde, auf den Kopf und führt SchülerInnen in der 9. Kl. möglichst breit in die Computeranwendung ein. Aus dieser Arbeit erwächst der Impuls zum Programmieren in der 10. Kl. (Datenbank, Rechenprogramme, Kurvenzeichnen, Textmanipulation (was immer das sein mag!!)). In der 11. Kl. folgen dann die physikalischen Grundelemente der Schaltungstechnik und in der Kl. 12 Fragen der Verantwortung und gesellschaftliche Konsequenzen. Man hat beim Lesen der Ausführungen durchaus den Eindruck, daß Straube tief in die inneren Zusammenhänge von Steiners Gesamtlehrplan eingedrungen ist und aus dieser Erkenntnis sein Konzept entwickelt hat.
Peter Wenger („Computer-Unterricht“) greift auf einige Vortragsstellen Steiners zurück und stellt sich die Frage nach der Qualität des Denkens: Gehirngebundenes Denken kann immer besser vom Computer simuliert werden. Wir werden also vom Schematischen immer mehr befreit werden können. Was wir entwickeln müssen, ist das eigentlich menschliche Denken, das Steiner „lebendiges Denken“ nannte. Wenger macht dann ebenfalls einen Durchgang durch die Klassen 9 bis 12 und stellt ein anderes Konzept vor als in der Schrift aus Kassel von 1990. Es hat einen ähnlichen Prinzipaufbau wie das von Straube, aber völlig andere Details. Wenger arbeitet z.B. bereits in Kl. 9 im Linux-Netzwerk und jeder Schüler erhält seine eigene E-Mail-Adresse. In Kl. 10 folgen Übungen mit einem Layoutprogramm, mit einem Satzsystem und einer Bildbearbeitung. In Kl. 11 werden Hardwarefragen behandelt, in Kl. 12 Programmieren.
Horst Wedde (“Das Zeitphänomen Computer“) schreibt nicht direkt zum Unterricht, sondern stellt sich übergeordnete Fragen zur Sinnesentwicklung, zu Denkprozessen, zu einer neuen Sozialität bei Computer-Teams, zur Kunst. Seine Gedanken lassen sich nicht unmittelbar für den Unterricht nutzbar machen, bereichern aber trotzdem ungemein wegen ihres anderen Blickwinkels.
In einem 2. Artikel von Wedde, zusammen mit Thomas Beilstein (Witten), werden spezielle Unterrichtskonzepte vorgestellt, bei denen der Computer in anderen Fächern eingesetzt wird, z.B. ein CAD-Programm zur 3D-Geländemodellierung beim Feldmessen. Der internationale Datenaustausch über die Wetterdatenerfassung (GLOBE-Projekt) bindet SchülerInnen für längere Zeit konkret in ein laufendes Projekt ein. Ein 3. Pfeiler ist ein Betriebspraktikum mit der Aufgabe, die innerbetrieblichen Abläufe zu erfassen - im Prinzip also eine Wirtschaftssimulation nicht im Spiel, sondern an konkreten Beispielen.
Uwe Buermann („Medienkunde - überflüssig oder notwendig“) stellt ein Kurzprojekt zur Medienkompetenz vor. Aus der Analyse einzelner Filmsequenzen erwuchs ein neues Bewußtsein über die prinzipielle Vorgehensweise moderner Medien. Ein Beispiel hierzu: Durch die Videoclips werden wir (d.h. wohl eher die Jugendlichen) an immer schnellere Einstellungswechsel und kürzere Bildsequenzen gewöhnt. Die Belastung des Nerven-Sinnes-Systems steigt.
Ein zweiter Artikel Buermanns („Computerspiele“) beschäftigt sich mit einem Reizthema vieler Eltern. Er entlarvt die bewußt eingebauten Programmiertricks, die Kinder am Spiel halten und ein Verhalten hervorrufen, das mit dem Begriff ‘Sucht’ richtig beschrieben werden kann. Die Konditionierung durch Lernprogramme und die Veränderung des Sozialverhaltens, wenn (zumindest am PC) über den Resetknof alles rückgängig gemacht werden kann, sind weitere Schwerpunkte. Ein kurzer, gut aufklärender Beitrag.
Der 2. Heftteil ist die Rubrik „Zeichen der Zeit“ und enthält vielfach redaktionelle Beiträge oder aus anderen Quellen Übernommenes. Im vorliegenden Heft ist er ganz dem Titelthema gewidmet.
Clifford Stoll, Astrophysiker aus San Francisco, wurde in Deutschland durch seine Bücher „Das Kuckucksei“ und „Die Wüste Internet“ bekannt. Er war in der Anfangszeit des Aufbaus des Internets (bzw. dessen Vorläufers) aktiv beteiligt und zählt heute zu den Kritikern. Stoll wurde interviewt zu Fragen bezüglich Internet, Auswirkungen auf Schüler und Lehrer, Waldorfschule und Waldorfpädagogik. Ein Kernsatz für mich war, daß Stoll die Waldorfpädagogik für seine Kinder suchte „wegen ihrer Spiritualität, des Respekts vor dem Individuum, der Arbeit mit Händen, der Naturbegegnung und der großen Zusammenhänge, welche dieser Pädagogik zugrunde liegen.“ Dieses Interview wurde in etwas anderer Form auch in ‘Das Goetheanum’ im Mai 2000 abgedruckt.
Das Interview mit Hanspeter Wüst behandelt Fragen, wie sie in der Wirtschaft üblich sind und konnte mein Interesse nur in engen Grenzen wecken.
Die 20jährige Jona nahm 35 Tage an „Big Brother“ teil, lebte also diese Zeit im voll unter Beobachtung stehenden Wohncontainer und schildert ihre Erfahrung. Quintessenz: „Es dreht sich alles um die Manipulation der Masse.“ Kurz: Lesenswert.
Kjerstin Köhle (eine Ulmer Waldorfschülerin) gibt ihr Erlebnis einer LAN-Party in Karlsruhe wieder. 170 PCs wurden vernetzt, um in Gruppen mit- und gegeneinander zu spielen. Ein Erlebnisbericht aus 1. Hand, den ich voll bestätigen kann, da ich kurz zuvor selbst Gastgeber einer (zwar mit 10 Teilnehmern bescheideneren) Netzwerkparty war. Es ist hochinteressant, was in einer Gruppe Jugendlicher abläuft, wenn 48 Stunden mit geringsten Unterbrechungen gespielt wird. Da solche LAN-Partys auch im Waldorfumfeld, privat, in Gemeindehäusern, auch in der Schule, ablaufen, ist dieser Beitrag ein Muß für jeden Erzieher, Eltern oder Lehrer.
Der letzte Beitrag von Barbara Krippner setzt sich mit der Teletubbie-Welt auseinander. Ich rate dringend, vor dem Lesen dieses Artikels wenigstens eine Sendung im Kinderkanal anzusehen und nach dem Lesen eine zweite ...
Die bis jetzt kurz referierten Aufsätze und aktuellen Berichte umfassen in der Erziehungskunst die Seiten 643-711. Ich konnte also nur wenige Schlaglichter werfen. Insgesamt kann ich dieses Heft jedem empfehlen, der sich mit dem Thema „Computer in der Schule“ auseinandersetzen will.
In den restlichen Seiten des Heftes läßt uns das Computerthema immer noch nicht los. Aus Schwäbisch-Hall kommt ein Bericht zu „Schulen ans Netz“, aus der Presse stammt die Mitteilung, daß Informatik in NRW Abiturfach werden soll, von mir stammt eine sehr kritische Buchbesprechung zu Bijan Kafis „Online“, die von der Redaktion ein klein wenig geglättet wurde (das Original steht im Internet: http://www.aliquot.de/rezension/kafi.htm).
So gibt dieses Juni-Heft des Jahres 2000 - gut gesetzt zur Johanni-Zeit - einen umfassenden Blick in die Waldorfschulbewegung und ihren Umgang mit dem Computer: Ein nicht immer geliebtes, aber vielfach als nötig empfundenes Gerät, das unsere momentane Gesellschaft schneller und radikaler verändert, als das Automobil 100 Jahre zuvor. Clifford Stoll wies den meiner Meinung richtigen Weg, der bei Wenger ebenfalls anklang: Unsere Aufgabe als Erzieher ist es, die richtige Spiritualität zu entwickeln, damit wir mit Hilfe der geistigen Welt unseren Kindern das vermitteln können, was sie wirklich brauchen und wir vielleicht heute noch gar nicht so wach bewußt wissen und überblicken.
Anschrift: Wolfgang
Creyaufmüller Melatener Str. 145A 52074 Aachen
e-mail: Wolfgang.Creyaufmueller@t-online
de
internet: http://www.aliquot.de/index.htm