Christoph Antweiler
Ethnologie lesen – Ein Führer durch den Bücher-Dschungel
in: Arbeitsbücher – Kulturwissenschaft, Bd. 1
Lit Verlag, Münster/Hamburg/London, 2002, 2. erweitertet Auflage, 14 + 353 S.
ISBN 3-8258-5608-9
Der Führer startet mit einem ausführlichen, vierseitigen Inhaltsverzeichnis,
gefolgt von zwei Seiten Vorwort und vier Seiten Einleitung. Diese Seiten sind
so gut gegliedert und inhaltlich aufgebaut, dass sich eine Rezension darauf
abstützen könnte – werden doch viele Einwände, die beim ersten Lesen entstehen,
bereits hier argumentativ aufgefangen. Dies spricht für ein gehobenes Maß an
Selbstkritik und Ehrlichkeit.
Das Buch wendet sich laut
Autor an Studierende und Lehrer der Ethnologie – nach meiner Einschätzung
sollte es den Studienanfängern gewidmet sein. Der eindeutige Schwerpunkt liegt
auf der Literatur der letzten 10 Jahre. Daraus resultiert vielleicht (und
bestimmt auch berechtigt) die Intention, ausgebildete (oder „diensttuende“) Ethnologen
anzusprechen.
Ein weiteres Ziel war, Bücher aufzunehmen, die zur universitären Lehre oder zum
autodidaktischen Studium geeignet sind, den heutigen Forschungsstand markieren
und in deutschen Bibliotheken vorhanden oder im Handel erhältlich und möglichst
preiswert sein sollten ( S. XII). Betont wird die Begrenzung auf Bücher!
Zeitschriftenaufsätze finden sich nur in seltenen Ausnahmen. Weiterhin fanden
klassische Texte zur Ethnologie keine Aufnahme, ebenso wenig Filme und
Tonträger und diverse Fach- oder Regionalgebiete. Ferner fehlen nicht-westliche
Bücher (S. XIII). Ebenso bekennt sich Antweiler zu einer Vorliebe für deutsche,
britische und amerikanische Werke (S. XXIII). Damit setzt er sich und seinen
Lesern Grenzen, die den Wert des Buches einerseits einschränken, andererseits
aber der heutigen Jugendgeneration und ihren (Sprach-)fähigkeiten gerecht
werden.
Der Schlussabschnitt des
Vorworts ist überschrieben mit ‚Dank und Bitte um Kritik’ – im Text wird die
Bitte um Kritik und Anregungen ausdrücklich wiederholt: Ich hoffe, es ist
ernstgemeint! Nun denn ...
10 Kapitel sind ins Auge zu fassen: 1) Allgemeine Ethnologie: Einführungen,
Lehrbücher, Zeitschriften. 2) Allgemeine Ethnologie: Nachschlagewerke,
Kompendien, Hilfsmittel. 3) Fachgeschichte, Theorien, Methoden und
Kontroversen. Weiteres später.
Im 1. Kapitel werden 96 Werke in 8 Unterkapiteln aufgelistet: 6 davon stammen
aus der Zeit vor 1980, 14 aus den 80er-Jahren, 55 aus den 90ern, 21 aus 2000
und später (Redaktionsschluss war Anfang 2002); 2 Titel sind italienisch, 5
französisch, der Rest deutsch oder englisch.
Im 2. Kapitel fanden 48 Bücher Eingang – 4/5/28/11 für die oben genannten
Zeiträume; 4 Titel sind französisch.
Das 3. Kapitel umfasst 461 Publikationen (87/104/215/47); 1 Titel französisch,
der Rest wie schon erwähnt, deutsch oder englisch.
In den übrigen Kapiteln sieht die Verteilung in den Zeithorizonten ähnlich aus.
Das nächste französische Buch fiel mir fast 200 Seiten weiter auf. Andere
Fremdsprachentitel fehlen völlig (Anmerkung: Ich habe nur einmal durchgezählt
und habe mich hoffentlich nicht verzählt!).
Schon hieraus wird deutlich, dass alles, was die französischen Ethnologen über
Nord- und Westafrika zu sagen hatten, unter den Tisch fallen muss. Die
französischsprachige Theorie- und Philosophiediskussion ebenso, von wenigen
Übersetzungen abgesehen. Der gesamte lateinamerikanische Sprachraum fällt weg,
der russische ebenso usw. Besonders schmerzhaft – für diese Besprechung müssen
einige Schwerpunkte genügen – fällt dies im 5. Kapitel (Regionen) auf: Im
Abschnitt 5.2.3 (Mittlerer Osten und Nordafrika) gibt es erstens keinen
französischen Titel, zweitens kein Buch über den Maghreb, drittens kein Buch
über die vielen Sahara-Völker. Im Unterabschnitt ‚Zentralasien und ehemalige
UdSSR’ liegt ein Schwerpunkt auf der Nach-Sowjet-Ära; alle Bücher sind auf
englisch. Hier wird ein Bild vermittelt, als gäbe es keine russischen
Ethnologie-Publikationen und dabei haben die ostdeutschen KollegInnen die
Schränke voll davon. Wie gesagt, es fällt viel unter den berühmten Tisch, den
sich der Leser jetzt schon als Tafel für mindestens 12 Personen vorstellen
sollte. Ich will dieses Bild nicht überstrapazieren. War der Ersteindruck beim
Durchlesen positiv, weil eigentlich nur deutsche und englische Titel ins Auge
fielen, fällt dieses Element bei detaillierter Durchsicht als fatales Manko
auf!
Was empfinde ich als gut? Zu fast allen Büchern gibt es einen griffigen
Kurzkommentar. Dies hört sich fast nebensächlich an, 20 oder 30 derartige
Kommentare lassen sich vielleicht schnell schreiben, aber Hunderte? Nach meiner
Abschätzung sind etwa 3000 Bücher aufgelistet, davon ca. 2500 kommentiert. Das
ist eine große Hilfe.
In zwei Unterkapiteln sind über weite Strecken allerdings nur Titel
aufgelistet: Rund 30 Seiten bei ‚Europa’, rund 7 Seiten bei ‚Globalisierung’.
Weiter: Innerhalb der
Kapitel finden sich Querverweise, welche Bücher sich ergänzen.
Bei Neuauflagen wird oft das
Buch zurückverfolgt, vor allem wenn ältere Auflagen in anderen Verlagen
und/oder unter anderem Titel erschienen waren.
Bei Übersetzungen stehen
Hinweise auf die Originalausgaben.
Sehr gut gegliedert ist das 4. Kapitel (Sachgebiete). Jedes der 24 Unterkapitel
hat prinzipiell folgende Struktur: a) Einblick (meist nur 2 Werke), b)
Grundlagen und Überblick, c) Vertiefung und heutiger Forschungsstand, d)
Sammelbände, e) Zeitschriften. Eine derartige Gliederung hilft dem Anfänger
wirklich. Wäre hier nicht eine Rubrik f) Klassiker sinnvoll?
Bei den Zeitschriften sind meist Titel und Ort genannt. Hier hätte ich mir noch
die Angaben „erscheint seit wann“ und „erscheint wie oft“ sowie die ISSN
gewünscht.
Das 5. Kapitel (Regionen) erscheint mir sinnvoll und fein genug untergliedert
zu sein. Zu zwei Unterkapiteln wurde oben schon einiges gesagt. Generell
empfinde ich hier die Beschränkung auf aktuelle Literatur noch mehr als
Einengung als in mehr theoretischen Kapiteln.
Eigentlich wollte ich nicht zu Einzelwerken Stellung beziehen, obwohl Antweiler
im Vorwort den Leser darum ersucht. Aber: Warum bei Afrika Hermann Baumann’s
Sammelband ‚Die Völker Afrikas und ihre Traditionellen Kulturen’ fehlt,
verstehe ich einfach nicht. Spielt das Alter (1979) eine Rolle? Dass
andererseits Richard Karutz’ Buch (‚Die Völker Europas’, S. 173) von 1926 (!!!)
aufgeführt wird, hat mich besonders gefreut. Durch die Nennung wird der einzige
namhafte deutsche Ethnologe gewürdigt, der auf der Basis anthroposophischer
Vertiefung schrieb und dessen Werke fast vollständig der Bücherverbrennung im
3. Reich zum Opfer fielen.
Wieso Klaus E. Müllers Buch ‚Schamanismus’ bei Populärethnologie (8. Kap.) auftaucht
und bei Religionsethnologie (Kap. 4.8) verschwiegen wird, ist mir schlichtweg
unbegreiflich.
Insgesamt möchte ich dem
Leser dieses 8. Kapitel ans Herz legen, weil es viele wertvolle Werke enthält,
die vielleicht besser anderswo gewürdigt werden sollten. Möglicherweise wäre es
gut gewesen (oder für eine Folgeauflage angezeigt), dieses Kapitel insgesamt
aufzulösen und die Bücher an den entsprechenden Stellen unter „Populäres“ zu
listen.
Der gesamte Komplex ‚Museum
und materielle Kultur’ wird kaum berücksichtigt. Auf S. 271
(‚Populärethnologie, Sachbücher’) tauchen dann tatsächlich zwei als solche
ausgewiesenen Museumspublikationen auf (beide von G. Völger/K. v.Welck). Ansonsten
wird die gesamte breite Palette der Museumsveröffentlichungen ignoriert.
Das Kapitel 10 (‚Basiswissen’) halte ich für überdimensioniert. Warum tauchen
ethnographische Weltatlanten (S. 327) erst hier auf und nicht in den
Anfangskapiteln? Manches kommt bereits spezialisiert im 3. Kapitel vor:
Schreibmethoden und Lesetechniken (S. 54, 319f.). Hier wäre Straffung
angezeigt.
Sinnvoll wäre durchaus, das Buch mit den gerafften Basiswissen zu starten und
dann erst die allgemeine Ethnologie folgen lassen.
Kapitel 9 (‚Über den Tellerrand hinaus: Einblicke in andere Wissenschaften’)
ist mit 32 S. ebenfalls sehr üppig geraten, trotzdem aber sinnvoll. Vieles
ließe sich ins Basiswissen integrieren. Linders Biologie (S. 309) halte ich wie
Antweiler für ein sehr gutes Schulbuch, aber wer Ethnologie studiert, hat das
Abitur hinter sich und sollte diese Basis also haben. Sollte nach Antweilers
Erfahrung der Kenntnisstand der heutigen Studienanfänger aber so sein, dass
eine derartige Quelle erwähnt werden muss – auch Basiswissen hat noch
Vorstufen. Prinzipiell hat das 9. Kapitel die gleiche Struktur in den
Unterkapiteln wie schon bei Kap. 4 ausgeführt (lediglich Zeitschriften fehlen),
das 10. in veränderter Form auch. Das sollte im gesamten Buch durchgehalten
werden!
Viele Quellen sind über das
Internet zu erschließen, auch Zeitschriften. Hier wäre für eine Folgeauflage
ein weites, lohnendes Feld. Sollte das Buch in der 3. Auflage zu dick werden,
könnten einzelne Kapitel billig und sinnvoll auf eine beigelegte CD ausgelagert
werden oder als Internet-Textdatei einsehbar bzw. abrufbar.
Obwohl eigentlich nur Bücher erfasst werden sollten, durchbricht der Autor sein
Schema im 3. Kapitel mehrfach: Grundsätzlich halte ich die Sammlung von Kontroversen
gut, aber sie passt so nicht zum übrigen Stil. Einige Beispiele (S. 57ff.): 1)
‚Samoa-Kontroverse: Freeman vs. Mead’ – 17 Titel, davon 9 Aufsätze.; 2)
‚Debatte um die reale Existenz der Tasaday’ – 14 Titel, davon 10 Aufsätze
(einer davon schlecht bibliographiert: Wie soll man „Iten, Oswald, 1986“ nur
mit der Titelangabe in einem ganzen Jahrgang der Neuen Züricher Zeitung
ausfindig machen? Die NZZ hat bekanntermaßen ein gutes Archiv ...); 3) ‚Debatte
um Aggressivität bei den Yanomami’ – 29 Titel, davon 14 Aufsätze; 4) ‚Debatte
über Rationalität von Bauern (peasants)’ – 16 Titel, davon 11 Aufsätze, alle
Titel aus den 70er und 80er-Jahren. Hier wird auch noch die Aktualität
missachtet!; 5) ‚Kontoverse um Carlos Castaneda’ – 38 Titel, davon 25 Aufsätze.
Und dies ist beileibe nicht alles – insgesamt werden 15 Kontroversen gelistet.
Um es kurz zu machen: hier hat Antweiler Dschungel produziert und nicht
gelichtet. Empfehlung: Beibehalten, aber auslagern; Kap. 3.9 ist zu speziell
für dieses Buch.
Antweiler wehrt sich zwar im Vorwort (S. X) gegen ein Register. Die
vorgebrachten Argumente kann ich in keiner Weise nachvollziehen. Jedes
mittelmäßige Textverarbeitungsprogramm erstellt ein Register auf Knopfdruck.
Und dass es sinnvoll ist, ein Personenverzeichnis zu haben, will ich nicht
weiter begründen – ich halte es gerade bei einem Literaturführer für unverzichtbar.
Die Stärke des Buches liegt eindeutig in der Erfassung der jüngsten und
aktuellsten Literatur. Missen möchte ich diesen „Führer durch den
Bücher-Dschungel“ nicht. Dass der Dschungel so manche Brandrodungsfläche
enthält und eigentlich in Teilen aufgeforstet werden müsste, um überhaupt durch
ihn führen zu können, wurde deutlich. Ich freue mich auf die veränderte
Folgeauflage.